Franz Schubert/Hans Zender Winterreise
Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester
Kairos
Erscheinungsdatum 1999
Spieldauer 93' 49''
Komponist: Hans Zender (*1936)
Christoph Prégardien, Tenor
Klangforum Wien
Sylvain Cambreling
Aufnahme: Konzerthaus Wien, Mozartsaal, Februar 1999
Katalognummer: 001 200 2KAI, 2 CDs
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Hans Zender
Schuberts Winterreise
Die spontan positive, teilweise geradezu euphorische Publikumsreaktion auf Hans Zenders Fassung der Schubertschen "Winterreise" seit ihrer Uraufführung am 21. September 1993 in Frankfurt zeigt, daß Zender mit seiner komponierten Interpretation, die dem Ensemble Modern gewidmet ist, einen Nerv der Zeit getroffen hat; daß die "Winterreise" mehr ist als ein unantastbares Monument unserer Musiktradition. In seinem ungemein anregenden Essay "Der epochale Winter" hatte bereits Mitte der achtziger Jahre Hans-Peter Padrutt die paradigmatische Qualität von Schuberts "Winterreise" neu herausgearbeitet, indem er eine im weitesten Sinne geschichtsphilosophische Analyse, politische Bestandsaufnahme der unterschiedlichsten ökologischen Bewegungen und eine Deutung der "Winterreise" zueinander in Beziehung setzte. Wollte man die ohnedies schon sehr pointierten Ausführungen Padrutts weiter zuspitzen, so könnte man sagen, daß er die alarmierenden Krisensymptome, die fundamentalen Erschütterungen sowohl unserer ästhetischen als auch unserer wissenschaftlichen Erfahrungsweisen aus der anscheinend unaufhaltsamen Verabsolutierung des neuzeitlichen Subjektbegriffs herleitet. Das in diesem Begriff gewissermaßen systemimmanent umhergeisternde der-Welt-abhanden-kommen findet in Schuberts "Winterreise", in der zunächst schleichenden, schließlich manifest werdenden Krankheit zum Tode des Wanderers seinen gültigsten künstlerischen Ausdruck.
Das höchst virulente Verstörungspotential dieses Liederzyklus' ist in unserem Kulturveranstaltungsbetrieb freilich eingekapselt in die etwas paradoxe Konzertform des Liederabends, dessen Verschränkung von fast privater Intimität, höchster musikalischer Intensität und größter äußerer Förmlichkeit für viele heutige Hörer eine schier unüberwindliche Barriere darstellt, Schwellenängste geradezu provoziert. Zenders "Bearbeitung" des Klavierparts (der Gesangspart, mithin der Textvortrag, bleibt weitgehend unangetastet) ist vordergründig betrachtet zunächst eine Art Transformation des Werkes ins öffentlichkeitsträchtigere Instrumentalkonzert. Sein Verfahren der komponierten Interpretation wäre kategorisch aber zwischen dem traditionellen Verfahren der Bearbeitung (Instrumentation) und der Neufassung bzw. kompositorischen Umdeutung oder Verfremdung, einer historischen Vorlage anzusiedeln.
Padrutts Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs münzt Zender um in eine Kritik am landläufigen Begriff des Autors und dessen scheinbar souveräner Verfügungsgewalt über den Text. Es wäre allerdings ein grobes Mißverständnis, darin eine ideologisch motivierte Kritik am Geniekult um Schubert zu sehen – noch viel weniger handelt es sich um den hybriden Versuch, das Original zu "verbessern" (wie das weiland Arnold Schoenberg mit seiner Händelbearbeitung vorschwebte), ihm also aus der selbstbewußten Sicht des geschichtlich erfahreneren Komponisten auf die Sprünge helfen. Zender setzt vielmehr am Prozess der Hervorbringung des Werkes selbst, sozusagen systemimmanent an. Aus eigener kompositorischer Erfahrung begreift er den Text nicht als Besitz seines Autors, vielmehr als Abstraktion eines in der Zeit sich entfaltenden Prozesses: als ein in den Raum projiziertes Notat der Entdeckungen, auf die der Autor im Verlauf der Werkfindung gestoßen ist. So gesehen ist die in Noten und Vortragsanweisungen festgehaltene Werkgestalt nicht die Sache selbst, sondern einzig die Darstellung des oben genannten Prozesses.
Die Einsicht in die Vorläufigkeit solcher Darstellung gehört zu den verstörendsten Erfahrungen der Moderne, in der schließlich die (immer schon latente) Unabschließbarkeit dieses Prozesses der Werkfindung zum eigentlichen Thema des Werkes wird. Zenders Auseinandersetzung ist demzufolge kein Zurückweichen vor den mannigfachen Problemen zeitgenössischen Komponierens, keine Flucht in wohlige Sentimentalität, sondern vielmehr eine Art Rückprojektion dieser zentralen Erfahrung der Moderne auf dieses Meisterwerk der Vergangenheit – vehementer Einspruch gegen die von Brecht konstatierte "durchschlagende" Wirkungslosigkeit" der Klassiker.
Doch wird mit solcher Umkehrung – an die Stelle der interpretierten Komposition tritt die komponierte Interpretation – nicht der Willkür Tür und Tor geöffnet? Der verständlichen Besorgnis der zahlreichen Liebhaber romantischer Liedkunst wäre in unserem Falle entgegenzuhalten, daß Zenders Version ja nicht als Ersatz fürs Original steht, wohl aber als Modell für ein zeitgenössisches Verstehen der Geschichte, in dem die traditionell strenge Trennung von Autor und Interpret gleichsam verflüssigt wird. Der Interpret wird aber nicht aus seiner Verantwortung entlassen, sondern im Gegenteil stärker gefordert. Der komponierende Interpret revitalisiert gleichsam den Akt der Werkfindung und tritt aus der Rolle desjenigen heraus. der sich bloß vermittelnd zwischen Autor und Werk stellt und gleichsam ins Werk ein.
Dieser Eingriff in die "Originalgestalt", des Werkes steht nur scheinbar in Widerspruch zur musikwissenschaftlichen Text-Kritik, sondern ist genau genommen deren künstlerisches Komplement. Denn eine so verstandene Textkritik zielt gerade nicht auf die philologischer Obsession entsprungene Schimäre eines sakrosankten, ewig gültigen Textes – vielmehr auf ein kompositorisches Nachzeichnen genau jener Momente die sich im Verlauf des geschichtlichen Prozesses zwangsläufig verselbständigen. (Gäbe es die Möglichkeit, buchstäblich alle Momente eines musikalischen Textes dem natürlichen "Alterungsprozess" zu entreißen, könnte man tatsächlich vom Ende der Geschichte sprechen. Davon kann trotz der Möglichkeiten technischer Reproduktion nicht die Rede sein, denn selbst die nur in Tonbändern gespeicherten Produktionen elektronischer Musik sind durch Abnutzung und die rasend schnell sich verändernden Wiedergabe- und Lautsprechersysterne dem Altern, im Sinne einer Anreicherung des "Textes" durch geschichtliche Erfahrung, ausgesetzt).
Interpretation, die sich nicht in geistloser Reproduktion, im Kopieren modischer Vortragsmanieren erschöpft, ist im Grunde sowieso eine sich den Veränderungen der Geschichte anschmiegende Darstellung der vom Autor ins Werk gesetzten Darstellung. Die besondere Originalität von Zenders komponierter Interpretation liegt nun darin, daß er nicht allein verschiedenartigeste Vortragsweisen auskomponiert bis hin zu den im späten 19. Jahrhundert gängigen Vor- und Zwischenspielen, sondern auch den Prozess der kompositorischen Auseinandersetzung mit Schubert in dieses Schlüsselwerk- zurückholt.
Auf diese Weise wird die in allen Musikgeschichtsbüchern konstatierte Ahnherrschaft Schuberts insbesondere über Schumann, Wolf, Mahler und Webern bis hin zu zeitgenössischen Komponisten wie Zender selbst oder auch Wolfgang Rihm am Original nachvollzogen und sinnlich erfahrbar gemacht. Die eingangs behauptete Mittelstellung, zwischen Bearbeitung und Neufassung wäre demzufolge beschreibbar als eine Art klingender Hermeneutik.
Zenders "Überschreibung" eines historischen Textes steht in einer konsequent ausfigurierten Entwicklungslinie seines Œuvres, die mit dem Streichquartett "Hölderlin lesen I" einsetzt und über den "Dialog mit Haydn" zur Joyce-Oper "Stephen Climax" führte. Während er in seinen von asiatischen Traditionen inspirierten Stücken (in "Muji No Kyo" oder im "Lo-Shu"- Zyklus) einen neuen, die europäischen Vorstellungen überschreitenden Zeitbegriff visiert, stellt er sich in dem der "Winterreise" angehörenden Schaffenszweig der Aufgabe, der besinnungslosen Abnutzung unserer Tradition Einhalt zu gebieten. Die scheinbar retrospektive Repertoire-Erweiterung vermittelt nicht letzte Gewißheiten über einen historischen Text, sondern markiert ein Zwischenstadium in dem virtuell unendlichen, offenen Erfahrungsprozess mit unserer Geschichte, die wir, ganz altmodisch ausgedrückt, stets neu erwerben müssen, um sie zu besitzen.
Wolfgang Fink